Macabros Nr. 87: Myriadus, der Tausendfaltige

Macabros Nr. 87: Myriadus, der Tausendfaltige


Alain Moreau warf einen Blick auf seine Armbanduhr. 22.04 Uhr. Er hatte noch genau eine Stunde und neun Minuten zu leben, doch davon ahnte er nichts. Mit keinem Gedanken dachte er an den Tod. Wenn man erst fünfunddreißig war, hatte das noch Zeit ... Der Mann mit dem braunen Haar und den dunklen, ständig in Bewegung befindlichen Augen warf die halb angerauchte Zigarette ins Wasser, wo die Glut zischend verlöschte. Sein Blick schweifte über das nächtliche Meer zu den kahl und schwarz aus dem Wasser ragenden Felsen, bis zu denen es etwa eine Stunde zu rudern war. Der drahtige Mann mit dem braunen T-Shirt, über das er eine dunkelgemusterte Jacke trug, stutzte plötzlich und wandte den Kopf. In der steinigen Bucht, wo er wartete, ließen sich Geräusche nur schwer vermeiden. Bei jedem Schritt gerieten die Steine in Bewegung.


Rezension von GoMar:


Kurzbeschreibung:
Zwei 35-jährige Franzosen, die gemeinsam Urlaub in Algeciras in Spanien nahe Gibraltar machen, rudern in der Nacht zu einer vorgelagerten Insel, wo sie eine wunderschöne nackte Blondine zu treffen hoffen. Stattdessen werden sie plötzlich von einem riesenhaften Monster, das aus dem Meer auftaucht, umgebracht. In Tanger springt plötzlich ein toter Fisch von einem Karren und verbeißt sich in den Hals einer Touristin. Diese läuft weg in den Keller eines Hauses. Die Suche nach ihr und dem Fisch bleibt erfolglos, denn es handelt sich hierbei um "Skrophuus", einer Zelle aus dem Körper von Myriadus, dem Tausendfältigen. Diesem Skrophuus ist es gelungen, den Mikrokosmos mit Björns unfreiwilliger Hilfe zu verlassen, um die Erde zu erobern und den Weg für Myriadus zu bereiten. Er kann riesengroß werden und wieder kleiner als Mikroben sein, je nachdem, wie er es braucht.
Björn Hellmark ist endlich zurück aus dem Mikrokosmos und hält sich wieder auf Marlos auf. Er hat aber keine Zeit, sich hier zu erholen, denn er sucht verzweifelt nach Wegen, sein "Schwert des ›Toten Gottes‹" wiederzuerlangen. Es blieb in Apokalyptas Händen im Mikrokosmos zurück. Zudem erfährt er, dass sich Ak Nafuur auf seinen baldigen Tod vorbereitet. Und als weiteren Mühlstein an seinem Hals empfindet er Pepes Mitteilung, dass sich Jim, der Guuf, aufmachte, um eine geheimnisvolle Höhle zu suchen, die für ihn sehr wichtig zu sein scheint. Probleme en masse für den Herrn von Marlos!
Jim, der Guuf, taucht im Urwald auf und kommt gerade noch rechtzeitig, um einem gefangenen Forscherehepaar zu Hilfe zu kommen, das gefesselt auf den Tod wartet - an Totempfähle gebunden mit Guuf-Köpfen darauf! Jim verscheucht mit seinem Auftauchen die Eingeborenen und befreit anschließend die Gefangenen. Als er die Hütten durchsucht, wird er von einem hünenhaften Mann niedergeschlagen - einem Weißen. Als Jim aus seiner Ohnmacht erwacht, findet er sich an einen Stuhl gefesselt. So lernt er Loll, einen Weißen, kennen, der bei den Eingeborenen in einem unbekannten, abgelegenen Dorf tief im Kongo-Urwald lebt. Loll ist schizophren geworden, und er will Jim auch opfern, da alle hier Angst haben vor den Guufs, die vor Jahrtausenden hier in besagter Höhle lebten. Dennoch erzählt er Jim von der Höhle, und als Jim schon glaubt, ihn auf seiner Seite zu haben, zückt Loll einen Dolch - und stößt ihn in Jims Hals ...
Durch Richard Patrick erfährt Björn Hellmark indessen, dass im Bootswrack ein Schwert gefunden wurde, das sein verlorenes Schwert sein könnte. Sofort macht sich Björn mit Rani Mahay und Richard Patrick auf den Weg nach Algeciras. In der dortigen Polizeistation begegnet Björn einem starken Dämon, den er mit einiger Mühe mit Hilfe der Dämonenmaske ausschalten kann, ahnend, dass es sich hier um eine Zelle des Skrophuus handelt. Dann entdeckt er das Schwert, doch dieses Schwert greift ihn plötzlich an und versucht, wie eine Schlange ihn zu erwürgen ...
Rani begibt sich unterdessen zum Strand und hat dort dieselbe Erscheinung, die einer der Franzosen schon hatte: Er sieht die schöne nackte Frau auf dem Wasser schweben. Sie lockt ihn aufs Meer hinaus zu der vorgelagerten Insel - und Rani folgt ihr ...
Es scheint, als gelänge es dem Skrophuus, Björn Hellmark und Rani Mahay zu erledigen ...


Meinung:
In der Geschichte der Menschheit gibt es den Begriff des "Missing link", des fehlenden Gliedes zwischen den Affenartigen und den ersten aufrecht gehenden Menschenartigen. Hier scheint es gefunden worden zu sein. Denn dieser Roman wirkt wie so ein gefundenes "Missing link" zwischen dem beendeten Zyklus der "Odyssee in der Welt des Atoms" und dem Zyklus der "13 Wege in die Dimension des Grauens". Es handelt sich hier eindeutig um einen Füllroman, der noch dazu meiner Meinung nach ganz schlecht geschrieben ist, denn es fehlt ihm fast an allem, in erster Linie aber an einem: Spannung. Ich persönlich würde ihn als einen der misslungensten Romane von Dan Shocker bezeichnen, obwohl er durchaus das Zeug gehabt hätte, ein starker Roman zu werden. Dennoch wirkt der Roman so, als ob der Autor nachgerechnet hätte und draufgekommen wäre, dass es bis zum Roman Nr. 100 noch 14 Romane zu schreiben gibt, aber damit würden die 13 Wege schon mit Roman Nr. 99 zu Ende sein. Das ging natürlich nicht, und so musste eben ein Füllsel her, denn der Mikrokosmos-Zyklus war ebenfalls definitiv beendet. So schrieb Dan Shocker eben diesen Roman anscheinend als Lückenfüller (besser gesagt: als Lückenbüßer), denn man spürt beim Lesen direkt, dass ihm das Schreiben dieses Romans nicht viel Spaß bereitet haben dürfte.
Dabei hatte dieser Roman mit Myriadus, dem Tausendfältigen, der einer der sieben Hauptdämonen im Rha-Ta-N'my-Dämonium ist, eine gewaltige Titelfigur. Aber schon hier fängt es an: Es ist nur ein "Skrophuus", eine Zelle des Tausendfältigen, die sich zwar teilt, aber vielleicht doch dadurch zu wenig an Horrorstimmung erzeugen konnte, obwohl die Anfangssequenz vielversprechend war. Aber auch da kommt das typische Dan Shocker-Element schwer zum Tragen: Einige Seiten lang wird über die Beweggründe der beiden Männer berichtet, hinauszurudern, das Zusammentreffen mit dem gigantischen Monster jedoch - das sogar als Titelbild dargestellt wurde - ist in wenigen Zeilen abgehandelt! Schade, denn hier allein schon hätte ein mehrere Spalten langer Kampf geschildert werden können. Aber das ist eher selten Dan Shockers Stil gewesen. Langes Beschreiben und Erklären, warum, wieso, weshalb etwas so oder so ist, geschieht oder sein wird, das direkte Kampfgeschehen ist aber meistens relativ kurz. Das mag an seiner schweren Krankheit - die er leider hatte! - mit doch enormer Einschränkung seiner Bewegungsfreiheit gelegen haben, denn dadurch fehlte ihm sicher so mancher Bezug dazu, was man mit einem menschlichen Körper alles machen kann. Dennoch bin ich der Meinung, dass die anderen Autoren auch nicht alle richtige Athleten sind und waren, die ständig irgendwo gegen irgendwen kämpfen oder kämpften, um so Erfahrungen fürs Schreiben zu sammeln; sie "schlachteten" solche Szenen eben nur länger aus. In fast allen Romanen Dan Shockers fiel dieses Element nicht so ins Gewicht, da seine übrigen Beschreibungen dies oft wettmachten, aber in diesem Roman hier fehlt selbst dieses Element: Es gibt eigentlich keine typischen Landschaftsbeschreibungen, wie sie bei einem Macabros üblich sind. Es würde mich wenig wundern, wenn dieser Roman nicht von Dan Shocker geschrieben worden wäre, denn er enthält wenig von dem typischen Esprit, das diese Romanserie so berühmt machte und weshalb diese Begeisterung meiner Meinung nach noch immer bei vielen Fans andauert.
Es gibt in diesem Roman vier, fünf Handlungsbogen, die das Zeug gehabt hätten, zumindest einen spannenden Doppelband daraus zu machen, aber keiner dieser Handlungsbogen wurde auch nur annähernd zu einem wirklich befriedigenden Ende geführt. Ein Doppelband durfte es aber auch nicht werden, denn dann hätten es keine 13 Wege anschließend mehr sein dürfen, sondern nur noch 12. Und das lag sicher nicht im Sinn von Dan Shocker. So baut dieser Roman einige unspektakuläre Szenen auf und lässt alle nach etwa zwei Dritteln des Romans im Sand verlaufen. Ein Showdown findet nicht einmal statt. Auf einmal ist alles irgendwie beendet; selbst Jim, der Guuf, ist einfach wieder so auf Marlos angekommen, weil Carminia wohl schon mit Kaffee und Kuchen auf ihn wartete - und auf die anderen. Selbst das weitere Ziel des Skrophuus wird nur lapidar in einem Satz erwähnt. So kann man annehmen, dass die Höhle der Guufs eventuell eine Rolle spielen könnte, denn obwohl der Part von Jim so dramatisch am Anfang dargestellt wird, wird er am Ende einfach wie mit einem Schwert abgehackt. Auch Björn und Rani wirken irgendwie paralysiert, ohne rechten Antrieb. Hier eine Flachserei, da mal eine Flachserei, dort mal einige Plattitüden - das ist einfach zu wenig. Spaltenlang wird beispielsweise beschrieben, was Rani alles macht, um dem nackten Frauengespenst zu Leibe zu rücken - und dann ist es einfach weg. Weil sich Macabros und Rani aber auf der Insel treffen, einige Flachsereien - und ab nach Marlos zu Kaffee und Kuchen!
Und die Titelfigur? Schade darum, denn dieser Hauptdämon hätte ja wirklich das Zeug, Björn und Freunde ordentlich Feuer unter dem Hintern zu machen, aber der wird ja reduziert auf eine Zelle, die ein paar mäßig spannende Einlagen produziert, aber eben irgendwie lieblos und unspannend. Das haben wir von Dan Shocker schon alles viel spannender zu lesen bekommen. Mit Myriadus, dem Tausendfältigen, hätte die Nummer 100 auch locker erreicht werden können.
Was mir persönlich auch nie wirklich gefiel - und auch heute noch nicht besonders gefällt -, ist diese "Herumspringerei" von Carminia Brado, Rani Mahay, Pepe und allen anderen Marlos-Bewohnern. Ich weiß schon, dass dadurch die Romanhelden beweglich blieben und nicht auf der unsichtbaren Insel versauern mussten. Aber mir persönlich hätte es besser gefallen, wenn sie vor allen Dingen auf den Spiegel der Kiuna Macgullyghosh und auf den Geistspiegel des Hestus, den Björn in Roman Nr. 75 "Ustur - in den Ketten des Unheimlichen" erhielt und auf Marlos installierte, zurückgreifen würden. Oder eben mit der Hilfe von Macabros. Dazu hätten sie dann noch das Problem mit der Fortbewegung auf der sichtbaren Erde gehabt, hatten sie doch eigentlich kein Geld mehr zur Verfügung (ja, ja, wer nicht arbeitet ...). Aber diese "Herumhopserei" in praktisch Nullzeit wirkt mit der Zeit doch etwas lähmend, und vor allem können die Leutchen zu leicht sich selbst aus allerlei Schwierigkeiten retten. Irgendwie scheint Dan Shocker das alles etwas entglitten zu sein, aber was sollte er da noch anderes machen? Die Isolation der Insel Marlos musste er ja irgendwie entschärfen, um seine Helden nicht selbst ins tote Eck zu stellen.
Um einen kleinen Bogen zur Jetztzeit zu machen: Christian Montillon ist dies in seinen neuen Macabros-Büchern, die es beim Zaubermond-Verlag zu erwerben gibt, beinahe mit Brachialgewalt gelungen, dieses "leidige Problem" fürs erste einmal zu entfernen! Wie er die Marlosianer in Zukunft aber bewegungsfähig in der motorisierten, modernen Welt halten will, das weiß bis dato wohl nur er selbst. Es lohnt sich auch deshalb, die neuen Macabros-Bücher zu lesen ...
Fazit: Ein überaus unspannender Roman, der noch dazu im letzten Drittel sich liest, als würde der Autor über eingeschlafene Füße schreiben. Absolut wenig Macabros-Feeling, wie sonst gewohnt, wird hier aufgebaut - und wie oben erwähnt: Schade um die Titelfigur, da hätte erheblich mehr daraus gemacht werden können ...
Ich kann diesem Roman gerade noch mit dem Zudrücken aller Augen (auch eventueller Hühneraugen) ein Kreuz zugestehen. Dies aber nur deshalb, weil mit der Einführung von Myriadus, dem Tausendfältigen, ein starker Gegner für die weiteren Abenteuer mit Björn Hellmark zumindest namentlich vorgestellt wurde.


Besonderheiten:
1. Skrophuus, eine Zelle aus dem Körper von Myriadus, taucht hier auf.
2. Björn Hellmark erfährt, dass Ak Nafuur sich auf seinen Tod vorbereitet.
3. Als Innen-Illustration wird erstmals Björn Hellmark alias Macabros gezeigt im typischen 70er-Jahre-Look, einen richtigen Playboy darstellend (offene Jacke mit übergroßen Kragenaufschlägen, behaarte Brust, braungebrannt, taxierender - aber auch melancholischer - Blick). Ein Schürzenjäger-Typ, der aber gleichzeitig auch wie ein Schwiegermutter-Typ wirkt. Das auf seiner Brust hängende Medaillon wurde jedoch meines Wissens noch nie beschrieben, ebenso das Grübchen am Kinn (der Zeichner ist wohl ein Kirk-Douglas-Fan). Und wie ein richtiges Muskelpaket, das schwertschwingend jeden Kampf bestehen kann, wirkt er irgendwie auch nicht, aber das kann ja täuschen. Im Großen und Ganzen finde ich ihn nach den Beschreibungen durch Dan Shocker dennoch recht gut getroffen.
4. Dieser Roman erschien auch als 1. Teil im Macabros-Doppelband Nr. 39 im Blitz-Verlag.


1 von 5 möglichen Kreuzen:
1 Kreuz


Kommentare zum Cover:

Das Titelbild empfinde ich noch als das Beste an diesem Roman. Es zeigt ziemlich genau die Szene, als die Skrophuus-Zelle als riesenhaftes Monster aus dem Meer vor der Insel steigt und sich einen der Insassen gleich schnappen wird. Die Figur des Skrophuus wurde ziemlich genau so beschrieben, auch die pupillenlosen roten Augen. Das Erschrecken der beiden Männer ist beinahe fühlbar. Einzig die Ruderpinne am Heck des Bootes, die der stehende Mann in der rechten Hand hält, wurde nie erwähnt, wirkt auch etwas übertrieben an diesem kleinen Boot. Wahrscheinlich hätte das Boot aber sonst zu "nackt" ausgesehen.


Coverbewertung:
3 Kreuze